Sprache ist mehr als Worte

Vielleicht fängt es schon hier an – bei der Anrede: Schreibe ich Sie oder du? Soll ich gendern? Und wenn ja, wie verständlich ist das dann noch? Mit oder ohne Sternchen *? Lieber der Doppelpunkt 😕 Oder das große I? Oder lieber ganz ohne? Oder ganz anders? Und was ist mit denen, die sich in all dem trotzdem nicht angesprochen fühlen Schreibe ich in Leichter Sprache? In einfacher Sprache? Oder einfach so, wie mir der Text aus den Fingern fließt? Was ist barrierefrei genug, wenn man nicht weiß, wer genau alles liest?

So beginnt er, unser Weg. Und er beginnt mit Fragen. Fragen, die zeigen: Sprache ist nicht neutral. Sie wirkt. Und sie entscheidet mit, wer sich gemeint fühlt – und wer nicht.

Wir bei TROTZDEM e.V. beschäftigen uns seit Langem mit Sprache – mit Sprache als Werkzeug, als Haltung, als Beziehung. Nicht nur, weil wir viel schreiben und formulieren – Kurzdokumentationen, Berichte, Konzepte, Leistungsbeschreibungen, Kinderschutzmeldungen, Newsletter…
Sondern vor allem, weil wir täglich mit Kindern, Jugendlichen, Familien und Fachkolleg:innen sprechen.
Sprache ist mehr als Information. Sie ist Beziehung.
Sprache kann Türen öffnen – zu Vertrauen, zu Verstehen, zu Veränderungen.
Aber Sprache kann auch Türen schließen – wenn sie zu schnell, zu hoch, zu fremd oder zu voll ist.
Sprache kann Halt geben – oder Abstand schaffen.
Sie kann Klarheit bringen – oder Unsicherheiten auslösen.

Gerade in der systemischen Arbeit ist Sprache kein fertiges Werkzeug, sondern ein Raum, der Möglichkeiten öffnet:

• Die Wunderfrage eröffnet Hoffnung, wo vorher nur Leere war.
Beispiele:
„Stell dir vor, über Nacht wäre ein Wunder passiert – morgen früh wachst du auf, und alles ist besser. Woran würdest du es als Erstes merken?“

• Die zirkuläre Frage lässt Menschen über sich selbst nachdenken, ohne Druck.
Beispiele:
„Was glaubst du, was deine Freundin gerade sagen würde, wie es dir im Moment geht?“

• Die Biografiefrage holt Menschen in ihre eigene Geschichte zurück.
Beispiele:
„Wann war das letzte Mal, dass Sie sich als Mutter sicher gefühlt haben?“

• Die Frage nach Resonanz bringt Bewegung in das, was gerade feststeckt.
Beispiele:
„Was passiert gerade in dir, wenn du das hörst?“

Diese und ähnliche Fragen wirken oft wie kleine Türen – sie öffnen einen Raum, in dem Selbstwirksamkeit, Reflexion und emotionale Verbindung überhaupt erst möglich werden. Sie sind dabei keine Technik, sondern Ausdruck einer Haltung:

„Ich bin interessiert an dir.“

Und manchmal braucht es keine Worte.
Ein Blick, eine Geste, ein Schweigen – auch das ist Sprache.
Besonders dann, wenn Menschen (noch) keine Worte für das haben, was in ihnen ist.

In unserem Arbeitsfeld – etwa im ambulanten Clearing, in den stationären Wohngruppen oder im Bereich HzE in Kita – sehen wir immer wieder:
Nicht jedes Verhalten ist „auffällig“. Manches ist sprachloser Ausdruck von Schmerz, Überforderung, Einsamkeit.
Kinder und Jugendliche drücken sich nicht nur über Worte aus.
Manchmal zeigt sich etwas durch Wut, durch Abwehr, durch Rückzug – oder in besonders herausfordernden Situationen auch durch riskantes Verhalten. Hierbei geht es um die Botschaft des Verhaltens. Das Entschlüsseln ist nicht immer ganz einfach.

Dann braucht es Menschen, die hören, auch wenn nichts gesagt wird.

Und die wissen: Sprachentwicklung – auch emotionale – braucht Zeit, Beziehung und ein Gegenüber, das nicht sofort bewertet.

In unsere Arbeit begegnen uns auch ganz kleine Kinder – unter drei Jahren, manchmal Babys. Sie haben noch keine gesprochene Sprache. Aber sie sprechen – mit ihren Blicken, ihrem Körper, ihrem Rhythmus. Sie zeigen uns, wie es ihnen geht, wenn sie sich anspannen, wenn sie weinen, wenn sie nicht essen wollen oder den Blick abwenden. Sie stellen keine Fragen – aber sie stellen Anforderungen: an unser Einfühlungsvermögen, unsere Präsenz, unsere Lesbarkeit. Hier wird Sprache zu etwas Körperlichem, Atmosphärischem. Ein leiser Ton kann Sicherheit geben. Ein zu schnelles Tempo kann überfordern.
Ein „Da-sein“ kann mehr sagen als jeder Satz.

In der Z(w)eitheimat oder auf dem Fair de Hof, mit Kindern im Grundschulalter, ist Sprache bereits da – aber sie ist oft noch brüchig, tastend, emotional ungeschliffen. „Ich will das nicht!“ kann so vieles bedeuten: Überforderung, Schmerz, Trotz, Angst. Hier geht es darum, Kinder sprachlich zu begleiten – ihre Gefühlswelt in Worte zu übersetzen, ohne ihnen die Deutung aus der Hand zu nehmen. Es geht um Angebote wie: „Du bist gerade ganz schön wütend, oder? Das darfst du sein.“

In der Maidornstraße, bei Jugendlichen ab 14, ist Sprache oft eine Art Schutzpanzer. Ironie, Provokation oder Rückzug sind nicht Ausdruck von Gleichgültigkeit, sondern oft Ausdruck von Unsicherheit. „Ist mir egal“ heißt manchmal: „Ich habe Angst, dass es mir zu wichtig wird.“ Ganz frei nach dem Titel des Buches von Jürg Liechti: „Dann komm ich halt – sag aber nichts – Motivierung Jugendlicher in Therapie und Beratung“.– siehe auch unsere heutige Buchrezension.

In der Arbeit mit Eltern ist Sprache ebenfalls ein Schlüssel – manchmal, um Sorgen in Worte zu fassen, manchmal, um Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen. „Ich will nur das Beste für mein Kind“ kann bedeuten: „Ich habe Angst, etwas falsch zu machen.“ Hier braucht es eine Sprache, die nicht belehrt, sondern einlädt – die Fragen stellt, die zuhört, die Raum lässt, damit auch Unsicherheiten ausgesprochen werden können. Ein offenes Gespräch kann Spannungen abbauen – sei es bei einem Hausbesuch oder in einem Hilfeplangespräch.

In unserer Arbeit treffen wir außerdem auf Menschen mit sehr unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Hintergründen. Mehrsprachigkeit ist dabei keine Hürde, sondern eine Ressource – sie öffnet neue Perspektiven. Gleichzeitig braucht es ein Bewusstsein für mögliche Barrieren: Fachbegriffe, Redewendungen oder kulturell geprägte Bilder, die nicht allen zugänglich sind. Ein Beispiel: Wenn wir im Gespräch sagen „Das Kind braucht Stabilität“, heißt das für manche Eltern „feste Regeln“, für andere „emotionale Wärme“. Oder: Das Wort „Jugendamt“ löst bei manchen Familien Vertrauen aus, bei anderen Misstrauen – abhängig von gemachten Erfahrungen oder Herkunftsland. Manchmal reicht ein einfacher Satz in verständlicher Sprache, manchmal braucht es Übersetzung – nicht nur der Worte, sondern auch der Bedeutungen dahinter. Hier zeigt sich: Barrierefreiheit ist auch kulturelle Sensibilität.

Und dann gibt es die Momente – über alle Altersgruppen hinweg –, in denen es keine passenden Worte gibt.
Kein Wort für das, was war.
Kein Wort, das heilt.
Kein Wort, das reicht.

Aber wir bleiben in Beziehung.
Wir versuchen, Brücken zu bauen, auch wenn sie wackelig sind.
Manchmal mit Sätzen.
Manchmal mit Schweigen.
Manchmal einfach mit dem Mut, nicht wegzugehen, auch wenn man nichts sagen kann.

Und ja: Es ist nicht leicht.
Doch Sprache begegnet uns nicht nur in der direkten Arbeit – in Gesprächen, im Spiel, im Konflikt, im Körperausdruck.
Sie begegnet uns auch dort, wo wir für viele sprechen: In Berichten. In Konzepten. In Stellungnahmen. Auf Webseiten. In Newslettern etc. Denn schon die Sprache der Öffentlichkeit bringt viele Herausforderungen mit sich: Sie braucht Struktur. Und Klarheit. Und auch den richtigen Ton. Denn plötzlich geht es nicht nur darum, verstanden zu werden – sondern auch darum, niemanden aus Versehen auszuschließen. Wer liest das, was wir schreiben?

Jugendliche? Eltern? Fachkolleg:innen? Jemand in einer schwierigen Lebenslage? Menschen, die Deutsch nicht als Erstsprache gelernt haben? Menschen mit einer Leseschwäche, mit Stress, mit einem schlechten Tag, ohne viel Zeit?

Barrierefreiheit beginnt genau hier.
– Wie schreibe ich inklusiv und verständlich?
– Wie einfach darf Sprache sein, ohne Inhalte zu verlieren?
– Wie bleibe ich zugänglich, ohne belehrend zu wirken?
–Und wie finde ich Worte für komplexe Lebenslagen – ohne Klischees, ohne komplizierte Fachbegriffe, ohne Distanz?

Im AKÖ – unserem Arbeitskreis Öffentlichkeiten bei TROTZDEM e.V. – beschäftigen wir uns gerade intensiv mit diesen Fragen.
Wir üben. Wir probieren aus.
Wir beginnen, Artikel nach den Regeln der „Leichten Sprache“ zu verfassen und auch zu veröffentlichen – das ist unser Ziel.

Wir fragen uns selbst:
Wie sichtbar ist unsere Haltung in unseren Texten?
Wie lesbar sind wir für Menschen in schwierigen Situationen – in Stress, in Not, in Unsicherheit?

Denn Barrierefreiheit beginnt nicht erst bei der Technik – sie beginnt oft mit einem Wort.
Oder mit dem Verzicht auf eines.

Wir laden Sie ein, mit uns weiterzudenken. Nicht als Test oder Fragebogen – sondern als kleine Einladung zum Innehalten.
Vielleicht beim Lesen. Vielleicht im Alltag. Vielleicht in einem nächsten Gespräch.

  • Wann haben Sie zuletzt gedacht: „Das verstehe ich nicht – das ist zu kompliziert geschrieben.“
  • Gibt es Wörter oder Begriffe, die Sie selbst oft benutzen, aber die vielleicht nicht alle verstehen?
  • Was tun Sie, wenn Sie merken, dass Ihr Gegenüber nicht versteht, was Sie sagen wollen?
  • Haben Sie schon einmal erlebt, dass ein Blick, ein Ton oder eine kleine Geste mehr gesagt hat als viele Worte?
  • Was hilft Ihnen, wenn Sie komplizierte Dinge erklärt bekommen?
  • Und was könnte eine Sprache sein, die niemanden ausschließt, sondern alle einlädt?

Deshalb bleiben wir dran. Nicht, weil wir schon alles richtig machen – sondern weil wir glauben, dass es zählt, wenn Menschen sich verstanden fühlen. Verständlichkeit ist auch ein Zeichen von Respekt. Und Sprache darf sich entwickeln und bewegen.

Wir bei TROTZDEM e.V. sind mittendrin: Und wir wissen: Wir sehen nur einen Teil davon, wie Sprache wirkt.

Darum freuen wir uns, wenn Sie uns rückmelden:

• Treffen wir den richtigen Ton?
• Sind unsere Texte verständlich?
• Was fehlt?
• Was stört?
• Was hilft?

Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, genauer hinzuschauen. Und vielleicht braucht es manchmal nur einen kleinen Hinweis, um einen Satz lesbarer, einen Text einladender oder eine Haltung sichtbarer zu machen.

Barrierefreiheit und leichte Sprache ist kein Zustand. Sie ist ein Prozess. Und manchmal beginnt er mit einer einfachen Frage:

„Wie wirkt das eigentlich auf dich?“

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